Am 10. Dezember 2019 enthüllten wir, gemeinsam mit der Wiener Wochenzeitung Falter, einen kleinen Skandal: Auch in Österreich war über ein Jahr lang klammheimlich gegen Max Zirngast wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation ermittelt worden. Die Ermittlungen beruhten einerseits darauf, dass der damalige Haftrichter in Ankara am 20. September 2018 die Haft über Max Zirngast verhängte. Sie beruhten andererseits auf einem hanebüchenen Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) vom 19. September 2018 voller wilder Spekulationen über die Zusammensetzung diverser, miteinander unverbundener linker Gruppierungen in der Türkei. Im Klartext: Nicht nur, dass aufgrund von Beschlüssen einer offensichtlich politischen Willkürjustiz in der Türkei prompt auch in Österreich ermittelt wurde –was an sich ja schon ein Skandal ist! Die österreichischen Ermittlungen liefen auch noch auf einer noch absurderen Grundlage als in der Türkei selbst: Die Organisation „TKP/K“, als deren Mitglied Max in der Türkei angeklagt wurde (wir haben darüber ja ausführlich berichtet), wurde in den staatsanwaltlichen „Beurteilungen“ auf Grundlage jenes BVT-Berichtes als Abspaltung einer anderen Struktur, der „TKP-ML“, herbei phantasiert – etwas, was nicht einmal die türkischen Behörden je behauptet hatten. Dieser Organisation wurde auch noch eine illegale Guerillaorganisation namens „TIKKO“ hinzugestellt. Unversehens wurde Max also in die Nähe einer bewaffneten Organisation gerückt. Das alles wurde noch dadurch getoppt, dass die Grazer Staatsanwaltschaft diese ihre wundersamen „Erkenntnisse“ in einem Rechtshilfeersuchen (vom 6 Dezember 2018, versandt am 23. Januar 2019 durch das Justizministerium) auch genauso an die türkischen Behörden weiterleitete und somit in Kauf nahm, dass Max Zirngast noch weiter in Gefahr gebracht wurde: Zu den hanebüchenen Vorwürfen aus dem türkischen „Justiz“-Laboratorium standen ja damit zusätzliche „Erkenntnisse“ einer österreichischen Staatsanwaltschaft über eine mögliche Verbindung von Max mit anderen politischen Gruppierungen (TKP-ML und TIKKO) im Raum! Damit stützte die Grazer Staatsanwaltschaft das Vorgehen der türkischen Willkürjustiz und erwies Max einen Bärendienst. Max und sein Rechtsanwalt, Mag. Clemens Lahner, legten deshalb Mitte Dezember Einspruch gegen das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Graz ein, auch wenn dieses schon abgeschlossen war. Wir stimmen darin überein, dass solche skandalösen Praxen öffentlich gemacht und eine Debatte darüber angestoßen werden muss, auch für ähnlich gelagerte andere Fälle.
Nun hat die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 3. Januar 2020 Stellung zum Einspruch bezogen. Diese Stellungnahme wiederholt, wie zu erwarten war, die bisherigen Verdrehungen und Ausflüchte der Staatsanwaltschaft. Seite um Seite versuchen sie, sich aus der Angelegenheit zu winden. Es findet sich keine Spur von Einsicht in die eigenen Fehler, die mutwillig einen Menschen in Gefahr brachten. „Jeder Fehler ist eine Gelegenheit, zu lernen und es beim nächsten Mal besser zu machen. Die Staatsanwaltschaft Graz hätte die Gelegenheit gehabt, sich ernsthaft mit unserem Einspruch auseinanderzusetzen und sich zu überlegen, ob sie in einem vergleichbaren Fall beim nächsten Mal anders agieren sollte. Stattdessen wird das behördliche Vorgehen stur verteidigt“, so Max’ Anwalt Clemens Lahner gegenüber der Solidaritätskampagne. Statt Einsicht in die eigenen Fehler gibt es von der Staatsanwaltschaft also das Gegenteil: Das eigene Vorgehen wird als reguläres Prozedere gesehen, die türkische Justiz sogar noch als „unabhängig“ dargestellt. Die Grazer Staatsanwaltschaft, ob absichtsvoll oder nicht, leistet damit erneut Schützenhilfe für die türkische Willkürjustiz.
Ganz normale Willfährigkeit
In ihrer Stellungnahme hält die Staatsanwaltschaft fest, dass ihr Vorgehen üblich, ja sogar notwendig gewesen sei, da Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft die „unbedingte und ermessensfreie Pflicht [haben], jede ihnen in ihrer amtlichen Eigenschaft zur Kenntnis gelangte […] Straftat, für deren Vorliegen hinreichend konkrete Anhaltspunkte im Sinn eines ausreichenden Anfangsverdachtes vorliegen […], von Amts wegen in einem Ermittlungsverfahren aufzuklären“ (Stellungnahme 03.01.20, S. 6). So weit bekannt. Dieses Vorgehen wurde zunächst einmal nicht in Frage gestellt. Die zentrale Frage ist aber: Woran macht sich denn ein „ausreichender Anfangsverdacht“ fest?
Und hier hält die Staatsanwaltschaft weiterhin stur an ihrem skandalösen Vorgehen fest: Sie verweist einerseits auf den BVT-Bericht zur Begründung des ausreichenden Anfangsverdachtes, obwohl, wie wir schon hervorgehoben haben und wie Rechtsanwalt Lahner im Einspruch besonders betonte, der betreffende Bericht ganz klar festhält, dass dem BVT keineInformationen über die in Frage stehende „TKP/K“ vorliegen. Es geht zusätzlich aus dem Bericht hervor, dass das BVT schlicht wild darüber spekuliert, die „TKP/K“ könnte eine Abspaltung der „TKP-ML“ sein. Trotzdem wird auch im BVT-Bericht überhaupt nichts über mögliche konkrete Verdachtsmomente gegenüber Max Zirngast geäußert. Rechtsanwalt Clemens Lahner verdeutlicht: „Die Staatsanwaltschaft stellte es sowohl in ihrem Rechtshilfe-Ersuchen an das Gericht in Ankara, als auch in ihrer Äußerung zu unserem Einspruch, so dar, als hätte das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) Verdachtsmomente gegen Max Zirngast ermittelt, was aber schlicht unwahr ist.“ Hier scheint die Staatsanwaltschaft also zumindest grob fahrlässig agiert zu haben. Ein Armutszeugnis für die Judikative, die vor allem in Ermittlungen mit dieser Tragweite (es stehen Terrorvorwürfe im Raum!) ihr Vorgehen nicht auf Hörensagen und Ungenauigkeiten basieren sollte. Lahner weiter: „Tatsächlich hatte das BVT nur allgemeine Informationen über die TKP-ML und vermutete ausdrücklich nur, dass es sich bei der TKP/K um eine Abspaltung von der TKP-ML handeln könnte. Eine Verbindung zwischen Max Zirngast und der TKP-ML beziehungsweise zwischen TKP-ML und TKP/K bestand aber nie und wurde nicht einmal von der Staatsanwaltschaft in Ankara behauptet“.
Zum Zweiten bezieht sich die Staatsanwaltschaft erneut auf die „Vernehmungsprotokolle der türkischen Strafverfolgungsbehörden“. Auch darin findet sich kein Indiz für eine Straftat. Max wird vom Staatsanwalt und vom Haftrichter lauter nicht-strafrechtsrelevante Dinge gefragt, es wird kein Indiz vorgelegt. Dennoch wird wegen „schweren Verdachtes“ Untersuchungshaft beschlossen. Gründe werden nicht ausgeführt. Die Folgen sind bekannt: weggesperrt für drei Monate, Verfahren für ein ganzes Jahr. Dieses Vorgehen, das Verhängen der Untersuchungshaft ohne jegliches konkretes Indiz für eine Straftat, wurde übrigens vom Präsidenten des Wiener Landesgerichtes für Strafsachen Friedrich Forsthuber aufs Schärfste kritisiert. Ob die Staatsanwaltschaft Graz wohl auch der Meinung ist, dass Herr Forsthuber deshalb „offenbar die bestehende österreichische Rechtslage“ (Stellungnahme 03.01.20, S. 6) verkennt, wie sie das nun angesichts des vorgebrachten Einspruchs von Max Zirngast und Rechtsanwalt Clemens Lahner tut?
Zu keiner der beiden „Quellen“, mit der sie ihr Vorgehen legitimiert, hat die Grazer Staatsanwaltschaft eine kritische Rückfrage zu den Ungereimtheiten der jeweiligen Berichte beziehungsweise Entscheidungen (Untersuchungshaft) gestellt, geschweige denn selbst Ermittlungen angestellt. Im Gegenteil: Im Schreiben von Oberstaatsanwaltschaft Graz vom 29. November 2018, in welchem die Staatsanwaltschaft Graz damit beauftragt wird das Ermittlungsverfahren gegen Max Zirngast aufzunehmen, wird sogar noch gesondert hervorgehoben, dass am – vom türkischen Haftrichter zwecks Inhaftierung unbegründet geäußerten – schweren Verdacht vorerst „der Umstand nichts zu ändern vermag, dass sich die Vereinigung, an der sich Max Zirngast beteiligt haben soll, weder auf einer österreichischen noch einer internationalen Terrorliste findet.“ Die (Ober-)Staatsanwaltschaft Graz nahm schlicht die unbegründeten und absurden Vorwürfe der türkischen Behörden und die Spekulationen des BVT für bare Münze und formulierte diese in einen „ausreichenden Anfangsverdacht“ um. Aus „könnte sein“ wird ein „ist“. Auch in der jetzigen Stellungnahme reproduziert die Staatsanwaltschaft ohne jede Schamröte die kurze Geschichte der „TKP-ML“. Das ist schlampig bis grob fahrlässig, weshalb der Einspruch dagegen dringend notwendig ist.
Die Windungen der Grazer Staatsanwaltschaft
Es geht aber noch weiter: In ihrer Stellungnahme verdreht die Staatsanwaltschaft Graz erneut die Umstände ihres Rechtshilfeersuchens an die Türkei. Sie verweist in ihrer Stellungnahme auf den § 64 StGB, der die österreichischen Behörden dazu anhält, Taten, die nach österreichischem Recht als Straftaten gelten, seitens österreichischer Staatsbürger*innen auch im Ausland zu ahnden. Interessant ist: Kein einziges Mal taucht der § 64 StGB im ersten Rechtshilfeersuchen an die Türkei auf (eine solche Begründung folgt erst im zweiten Ersuchen). Im ersten Rechtshilfeersuchen ist klipp und klar die Rede von § 278 (b) StGB – Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung – und dass auch in Österreich gegen Max aufgrund dieses Paragraphen ermittelt wird. Auch die „TIKKO“, jene Guerillaarmee, die im Verdacht steht der bewaffnete Arm der TKP-ML zu sein, wird in diesem Rechtshilfeersuchen erwähnt. Dies muss die türkische Willkürjustiz als Aufmunterung verstanden haben, weiter zu machen. Sie muss sich gedacht haben: „Wir sperren da mal wieder drei Leute weg ohne irgendwelche Indizien, einfach nur, weil wir sie lästig finden, klatschen da pro forma ‚schwerer Tatverdacht‘ drauf – und die österreichischen Behörden kaufen uns das auch noch so ab und ermitteln sogar in Österreich gegen den Angeklagten. Na, dann können wir ja getrost so weitermachen!“ Dabei hätte die Grazer Staatsanwaltschaft, wenn überhaupt, schlicht und neutral auf § 64 und auf Übermittlung von Informationen gegenüber den türkischen Behörden pochen können – anstatt schon selber ohne irgendwelche Indizien oder gar Beweisen wegen Terror zu ermitteln und das auch noch mit Fehlinformationen versetzt an die türkischen Behörden so weiterzuleiten. Schließlich ist für jede unabhängige Beobachterin klar, dass das Verfahren in der Türkei gegen Max Zirngast und Freund*innen ein reinstes politisches Willkürverfahren war – dass es nach einem Jahr inklusive drei Monaten Haft ohne die geringste Veränderung der Informationslage zu einem vollständigen Freispruch führte, bestätigt genau diese Willkürlichkeit im Freispruch, genauso wie in der Festnahme und Inhaftierung.
Grazer Segen für die Willkürjustiz
Aber anscheinend ist es doch nicht jedem ersichtlich, dass das Verfahren gegen Max Zirngast in der Türkei ein pures Willkürverfahren war wie so viele andere auch. Anscheinend ist es nicht uneingeschränkt klar, dass die Einstellung des Verfahrens nach einem Jahr genauso willkürlich war wie die Eröffnung des Verfahrens zuvor. Anscheinend! Denn, so hört man, beweise vor allem der Freispruch, dass der türkischen Justiz – „nicht von vornherein jegliche Unabhängigkeit abgesprochen werden“ kann! Hier das Original der Grazer Staatsanwaltschaft aus Seite Acht der Stellungnahme im Wortlaut:
[Den türkischen Justizbehörden] kann im Übrigen nicht von vornherein jegliche Unabhängigkeit abgesprochen werden, was sich letztlich auch an dem vom türkischen Staatsanwalt beantragten und vom türkischen Gericht gefällten – von österreichischen Medien als „überraschend“ bezeichneten […] – freisprechenden Urteil zeigt.
Warum wohl bezeichneten die österreichischen Medien den Freispruch als „überraschend“? Weil klar war, dass es sich um ein politisches Willkürverfahren handelt. Diese ziehen sich in der Türkei erfahrungsgemäß über Jahre hin. Dies ist der Fall bei prominenteren und für das türkische Regime viel wichtigeren Fällen wie Selahattin Demirtaş, dem ehemaligen Vorsitzenden der pro-kurdischen, linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), oder dem deutschen Journalisten Deniz Yücel, dem Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner und vielen, vielen mehr. Das gilt aber auch für aus der Perspektive des türkischen Regimes „unwichtigere“ und „kleinere“ Fälle wie die der Ulmer Journalistin Meşale Tolu oder des Kölner Sozialarbeiters Adil Demirci. Beide saßen viel länger als Max im Gefängnis, gegen beide sind die Vorwürfe ebenso hanebüchen und konstruiert, gegen beide laufen noch immer Verfahren. Warum es bei Max Zirngast viel schneller ging, darüber können wir derzeit nur spekulieren. Aber wir sind uns sicher: Auch bei den Fällen von Demirtaş, Yücel, Steudtner, Tolu, Demirci und weiteren ähnlichen wird eine wie bisher argumentierende Grazer Staatsanwaltschaft davon sprechen, dass es die „Unabhängigkeit der Justiz“ beweist, wenn denn dann einmal hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft, aber nach teils Jahren illegitimer Haft und abstruser Verfahren endlich vollständige Freisprüche erfolgen. „Die Staatsanwaltschaft Graz ist immer noch gewillt, die juristische Willkür in der Türkei als gute rechtsstaatliche Praxis abzusegnen. Unser Freispruch gilt dann absurderweise auch noch als Indiz für eine funktionierende Justiz. Das wirft dann die Frage auf, was denn noch passieren muss, damit das Justizsystem in der Türkei von der Grazer Staatsanwaltschaft als nicht funktionierend und rechtsstaatlichen Kriterien nicht entsprechend bewertet wird“, so Max Zirngast gegenüber der Solidaritätskampagne.
Desinteresse für die Rechte von Max Zirngast
Im Kontrast dazu fällt auf, wie wenig sich die Staatsanwaltschaft für die Perspektive von Max Zirngast selber interessiert. Zur Frage, warum Max Zirngast nicht früher über das auch in Österreich gegen ihn laufende Verfahren informiert wurde, wird darauf verwiesen, dass der Staatsanwaltschaft nun einmal seine Adresse nicht bekannt war und es gerade deshalb die Akten der türkischen Behörden bedurft hätte. Andererseits heißt es, eine Erlangung der von der Staatsanwaltschaft Graz erwünschten Aktenkopien (Anklageschrift) direkt von Max Zirngast selber über die österreichische Botschaft in Ankara vermittelt „erschließ[e] sich nicht“ (Stellungnahme 03.01.2020, S. 8). Denn weder sei der Grazer Staatsanwaltschaft bekannt gewesen, dass Max Zirngast die Anklageschrift bei der Botschaft eingereicht habe; noch könne über einen solchen Weg die Vollständigkeit der Akten gewährleistet werden. Weiters wird ausgeführt, dass das Rechtshilfeersuchen an die Türkei erst gestellt wurde, nachdem Max Zirngast schon auf freiem Fuß war – was wohl heißen soll, dass die Anwaltschaft der Meinung ist, das mit Fehlinformationen bespickte Rechtshilfeersuchen hätte keine weitere Gefährdung von Max Zirngast mehr mit sich bringen können.
Wir möchten ein paar Punkte dazu anmerken. Erstens: Die Aussagen der Staatsanwaltschaft Graz zur fehlenden Kontaktmöglichkeit stimmen nicht. In den österreichischen Verfahrensakten sind mehrere Berichte der österreichischen Botschaft aufgenommen worden, worin auch die türkische Adresse von Max Zirngast, die Adresse seiner Mutter in Österreich sowie seines Rechtsanwaltes in der Türkei (inklusive seiner Handynummer!) auftauchen. Sogar die Handynummer seiner Freundin ist verzeichnet! Auch der BVT-Bericht benennt am Ende unter „Personen – Objekt – KFZ – Daten“ die türkische Meldeadresse von Max Zirngast. Außerdem steht die Botschaft permanent in Kontakt mit Familie und Anwalt, später auch mit Max Zirngast selber. Zweitens stimmt es nicht, dass das erste Rechtshilfeersuchen erst nach der Haftentlassung von Max Zirngast datiert. Es wurde tatsächlich während seiner Haft verfasst, die Übersetzung und Übermittlung seitens des Justizministeriums dauerte nur zufälligerweise länger als die Haftdauer von Max Zirngast. Zugleich ging aber das Verfahren gegen Max Zirngast in der Türkei weiter, er hatte eine Meldepflicht und durfte das Land nicht verlassen. Eine zusätzliche Gefährdung von Max Zirngast war also durchaus vorhanden und wurde fahrlässig in Kauf genommen.
Die Argumentation der Grazer Staatsanwaltschaft in diesen Punkten zeigt damit vor allem auf, wie „nebensächlich“ und „unwichtig“ für sie die Rechte und Interessen von Max Zirngast sind: Die Staatsanwaltschaft hätte auch ohne Umweg über die österreichische Botschaft mühelos Kontakt zum Anwalt von Max Zirngast und zu Max Zirngast selber herstellen können und müssen, damit Max Zirngast über das Verfahren informiert werden konnte und Akten in seinem Sinne hätte einreichen können. Zugleich hätte dies Max Zirngast vor einer weiteren Repressionswelle schützen können und müssen: Den türkischen Behörden wäre somit keine Willfährigkeit gespiegelt und neue „Verdachtsmomente“ („TKP-ML“, „TIKKO“) zugespielt worden. Bei Skepsis hinsichtlich der Vollständigkeit der Akten hätten diese mühelos zusammen mit einem Vertrauensanwalt der österreichischen Botschaft aus der Online-Justizdatenbank des türkischen Staates, UYAP, heruntergeladen und authentifiziert werden können. All das wurde nicht gemacht. Denn, ob gewollt oder nicht: Für die Grazer Staatsanwaltschaft hatten offensichtlich die türkische Willkürjustiz und die wilden Spekulationen des BVT eine höhere „Seriosität“ als alles, was Max Zirngast oder seine Rechtsanwälte (in Österreich und in der Türkei) hätten tun können. Deshalb war wohl „seriöserweise ein offizielles Rechtshilfeersuchen an die türkischen Justizbehörden erforderlich“ (Stellungnahme 03.01.20, S. 8).
Im Zweifel für die Anklage
Das Rechtsprinzip „im Zweifel für den/die Angeklagte*n“ ist eines der grundlegenden Prinzipien einer funktionierenden Justiz. Die Schuld der angeklagten Person muss zweifelsfrei bewiesen werden, um die betroffene Person zu verurteilen. Es ist aber falsch anzunehmen, dass dieses Prinzip nur im Moment der endgültigen Urteilsentscheidung angewandt werden müsse. Das wäre dann genau die Praxis, die die türkische Willkürjustiz oft genug anwendet. Auch Max Zirngast und seine Mitangeklagten wurden letztlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen, hätten aber bei halbwegs sinnvoller Anwendung des genannten Rechtsprinzips gar nicht erst in Untersuchungshaft gesteckt und im Anschluss mit Ausreiseverboten belegt werden dürfen. Ja, es hätte überhaupt gar kein Verfahren gegen sie lanciert werden dürfen. Denn für den vom Haftgericht behaupteten „starken Verdacht“ gab es von Anfang bis zum Schluss kein Indiz, geschweige denn einen einzigen stichhaltigen Beweis.
Sich nach Monaten oder Jahren Untersuchungshaft – ergo einer Bestrafung ohne Schuldspruch für die Betroffenen und ihre Nächsten, die genauso mitbestraft werden – dann abzuputzen und zu sagen „Na, ihr seid ja eh freigekommen, was wollt ihr eigentlich!“ ist eine übliche Praxis der türkischen Willkürjustiz. Diese weiß sehr gut, dass die bestraften Personen die ihnen vorgeworfenen Straftaten nicht begangen haben. Weil sie aber dennoch abgestraft werden, kann und muss von einer politischen Willkürjustiz gesprochen werden. Genau diese politische Justiz wird von der Grazer Staatsanwaltschaft offensichtlich abgesegnet. Sie wird in dem Moment, gewollt oder ungewollt, unterstützt, indem die Behauptungen der türkischen Willkürjustiz einfach hingenommen und legitimiert werden. Die Staatsanwaltschaft Graz wendet damit ganz offensichtlich das Prinzip „im Zweifel für die Anklage“ an, was wohl kaum als gute rechtsstaatliche Praxis durchgehen kann.
Präzedenzfall schaffen gegen zukünftige Schützenhilfe!
Im weiteren Verlauf des Einspruches, über den nun das Landesgericht für Strafsachen Graz zu entscheiden hat, geht es vor allem auch darum, diese Praxis aufzuzeigen und in möglichen zukünftigen Fällen schon im Voraus ein Mittel in der Hand zu haben, diese Schützenhilfe zu unterbinden. Denn Max Zirngast war nicht der einzige (ausländische) politische Gefangene in der Türkei, auch nicht der einzige mit österreichischer Staatsbürger*innenschaft. Mülkiye Laçin konnte glücklicherweise nach ihrem ersten Gerichtstermin am 9. Januar 2020 aus der Türkei ausreisen, aber es gibt immer wieder ähnliche Fälle. Es gilt dagegen zu arbeiten, dass die österreichischen Behörden auch in Zukunft Schützenhilfe für die politische Willkürjustiz in der Türkei liefern und somit auch zur Kriminalisierung von Einsatz für Demokratie und Menschenrechte ihr Schäuflein beitragen.