Ein handfester Skandal. Die österreichischen Behörden und der Fall Max Zirngast

Der Fall Max Zirngast ist im Nachhinein schnell erzählt: Zunächst die Festnahme des kritischen Journalisten und Politikstudenten am 11. September 2018 in Ankara mit anschließendem Polizeigewahrsam, dann die Überführung in Untersuchungshaft im Hochsicherheitsgefängnis Sincan. Pünktlich zu Weihnachten desselben Jahres dann die Enthaftung mit Auflagen. Im April 2019 folgte dann der erste Gerichtstermin, an dem die Meldepflicht von Max, nicht aber seine Ausreisesperre aufgehoben wurde. Genau ein Jahr nach der Festnahme, am 11. September 2019, folgte dann beim zweiten Gerichtstermin der vollständige Freispruch von Max und den mit ihm gemeinsam Angeklagten. Wir haben über diese Irrfahrt der Willkürlichkeit auf unserer Seite und in den Sozialen Medien ausgiebig berichtet. Gemeinsam mit weiteren solidarischen Menschen hatten wir an jenem 11. September 2018 schnell die Schockstarre verlassen und gründeten die international aktive Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast. Unser erklärtes Ziel war es, Max so schnell wie möglich aus den Mühlen der türkischen Willkürjustiz zu befreien.

Anfangs schien es noch großes Interesse seitens österreichischer Regierungskreise an Max zu geben, der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz verlangte sogar wiederholt die „sofortige Freilassung“ von Max. Allerdings fiel uns rasch auf, dass die österreichischen Behörden innerhalb kürzester Zeit kein großes Interesse mehr für den Fall an den Tag zu legen schienen. Wohlgemerkt: Hier saß ein österreichischer Staatsbürger unter offensichtlich abstrusen Vorwürfen in der Türkei im Gefängnis. Wir gingen davon aus, dass schlicht Desinteresse vorherrschte und konnten über die Gründe dessen nur spekulieren. Eventuell war Max einfach „zu unbekannt“, „zu aktivistisch“, „zu links“. Die ehemalige Außenministerin Karin Kneissl mahnte vor einem „mediale[n] Hochspielen“, das sei kontraproduktiv, man müsse die Methode einer ominösen „stillen Diplomatie“ verfolgen. So weit bekannt.

Aber es kommt schlimmer, als wir damals ahnen konnten. Die österreichischen Behörden setzten sich nicht nur nicht konsequent genug im Sinne Max Zirngasts ein – im Gegenteil: Sie gingen regelrecht gegen Max Zirngast vor! Es folgt die Geschichte eines handfesten Skandals.

Ein überraschender Brief im November

Anfang November 2019 erhält Max Zirngast einen überraschenden Brief von der Staatsanwaltschaft Graz, datiert auf den 29. Oktober 2019. In ihm wird er darüber benachrichtigt, dass ein gegen ihn von der Staatsanwaltschaft Graz geführtes Verfahren mit dem Aktenzeichen 25 St 33/18p eingestellt wurde – „WEGEN: § 278 (b) StGB“, also ein Verfahren wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Gemeinsam mit Max lachen wir darüber, versuchen, aus Spaß heraus zu raten, welcher Troll aus Wien, der der türkischen Regierung nahesteht, mal wieder zu übereifrig war. Wir sehen das eingestellte Verfahren als eine weitere Anekdote eines ganzen Jahres der Unwägbarkeiten. Doch wir täuschen uns gewaltig. Als Max am 14. November Akteneinsicht bekommt, läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken: Es ist nicht ein AKP-Troll, der ein unsinniges Verfahren gegen ihn angeleiert hat. Es ist die Staatsanwaltschaft Graz selbst, die eigeninitiativ ein Verfahren gegen Max Zirngast eingeleitet und über Monate hinweg gegen ihn „ermittelt“ hat.

Der Blick zurück in den September 2018: Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), also der Inlandsgeheimdienst der Republik Österreich, schickt am 19. September einen 15-seitigen Bericht Max Zirngast betreffend an die Staatsanwaltschaft Wien. In diesem wird die Staatsanwaltschaft Wien, die dann die Ermittlungen der Grazer Staatsanwaltschaft abtreten wird, ausführlich über die Hintergründe der Inhaftierung von Max Zirngast in der Türkei wegen angeblicher Mitgliedschaft in der terroristischen Organisation „TKP/K“ (Kommunistische Partei der Türkei/Funke) und über mediale Reaktionen im deutschsprachigen Raum unterrichtet. Der Bericht hält fest, dass dem BVT derzeit „keine Erkenntnisse zu dieser Organisation [TKP/K, Anm. d. Red.]“ vorliegen. Der Satz, der unmittelbar auf diese mangelnde Erkenntnis folgt, hat es jedoch in sich: „Es wird aber vermutet, dass es sich dabei um eine Abspaltung der TKP-ML handelt.“ Die TKP-ML, mit vollem Namen Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch, ist eine Organisation, die in der Tat existiert und von der türkischen Regierung – und nur von dieser – als Terrororganisation gelistet ist.

Wer sich grob mit der Geschichte linker Politik in der Türkei auskennt, der weiß, dass es bis zum heutigen Tage immer mal wieder durchaus mehrere Parteien und Organisationen gleichzeitig gab, die sich als „Kommunistische Partei“ – manchmal mit diesem oder jenem Zusatz – der Türkei deklarierten. Dabei divergierten und divergieren sie inhaltlich, personell wie auch in der Herangehensweise stark voneinander, teilweise sind sie miteinander befeindet. Wie das BVT daher auf die Idee kommt, über eine ominöse Organisation, zu der ihr keine Informationen vorliegen, plötzlich zu behaupten, sie sei eine Abspaltung einer offensichtlich ganz anderen Organisation, auf die sich nicht einmal die türkischen Behörden in ihrer Anklage gegen Max Zirngast beziehen, entbehrt jedes Verständnisses. Vor allem im Anbetracht dessen, dass im selben Bericht an anderer Stelle ausgeführt wird, dass die „TKP/K“ angeblich eine Abspaltung der „TKP“ – also wieder einer anderen Organisation – sein soll, mit der aber die „TKP/ML“ seitens des BVT nirgends in Verbindung gebracht wird.

Es folgen zwei Seiten Erläuterungen zur Geschichte und Politik der „TKP/ML“. Am Ende wird schließlich festgehalten, dass die „TKP/ML“ in keinem europäischen Staat verboten sei und es in Österreich keine strafbaren Handlungen – außer Schmieraktionen an Gebäudefassaden – gäbe, die der „TKP/ML“ zuzuordnen seien. Sie sei nur in der Türkei als „Terrororganisation“ gelistet. Und, das ist wichtig für den weiteren Verlauf des Skandals: sie unterhalte eine bewaffnete Guerillaorganisation in der Türkei, die „Türkische Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee“ (TIKKO), die den gewalttätigen Umsturz des Staates anvisiere.

Fassen wir zusammen: Das BVT hat zu diesem Zeitpunkt keine Informationen zur „TKP/K“ als deren angebliches Mitglied Max Zirngast in der Türkei angeklagt ist. Es spekuliert wild in die Luft, die „TKP/K“ könnte eine Abspaltung der „TKP/ML“ sein – die keine verbotene Organisation in Österreich ist. Gleichzeitig wird dieser aber noch ein bewaffneter Arm dazugestellt, in dessen Nähe Max Zirngast damit implizit gerückt wird. Wie immens gefährlich solche wilden Spekulationen für Betroffene sein können, zeigt sich wenig später: Für die Staatsanwaltschaft Graz dient die Verknüpfung von Max Zirngast mit der „TKP/ML“ in ihrer Argumentation dazu, zu behaupten, die „TKP/K“, deren Mitglied Zirngast sein könne, unterhalte eine revolutionäre Guerillaarmee mit dem Namen „Türkische Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee“ (TIKKO). Und schon wird mit wilden Spekulationen und viel Phantasie nahegelegt, Max Zirngast sei Mitglied in einer „Terrororganisation“, die per Gewalt den Staatsumsturz herbeiführen möchte. Und das wird dann auch noch den türkischen Behörden genau so weitergeleitet. Was im Geiste zusammengehört, das kommt dann eben auch in der Praxis zusammen.

Die Grazer Inquisition

Mit Schreiben vom 26. November 2018 leitet die Oberstaatsanwaltschaft Graz die Staatsanwaltschaft Graz dazu an, ein Verfahren gegen Max Zirngast wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation einzuleiten. Die Begründung schlägt dem Fass den Boden aus: Das 4. Amtsgericht für Schwerverbrechen in Ankara habe ja schließlich am 20. September 2018 die Verhaftung von Max Zirngast wegen „starken Verdachts“ der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation beschlossen. Die Grazer Staatsanwaltschaft nimmt also das Feigenblatt an „Rechtsstaatlichkeit“, derer sich politische Haftrichter in der Türkei typischerweise bedienen, um ohne in die Akte zu schauen dennoch Haft verhängen zu können – für bare Münze. Nicht nur das: Die Oberstaatsanwaltschaft setzt sogar noch eins drauf und fügt hinzu, dass am Verdacht vorerst „der Umstand nichts zu ändern vermag, dass sich die Vereinigung, an der sich Max Zirngast beteiligt haben soll, weder auf einer österreichischen noch einer internationalen Terrorliste findet.“ Eine regelrechte Umkehrung des Rechtsprinzips in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten) findet statt: Potenziell schuldig, bis die Unschuld bewiesen wird.

Ganze drei Mal – am 6. Dezember 2018, am 23. Januar 2019 und am 29. April 2019 – wenden sich die Grazer Oberstaatsanwaltschaft und das österreichische Justizministerium mit einem Rechtshilfeersuchen in dieser Sache an die türkischen Behörden; sie fordern die Übermittlung von Aktenteilen an. Im Ersuchen aus dem Dezember 2018 an das 4. Amtsgericht für Strafsachen in Ankara schreibt die Oberstaatsanwaltschaft ganz unverblümt, dass auch in Österreich ein Verfahren gegen Max Zirngast laufe aufgrund der vorliegenden „Vernehmungsprotokolle der türkischen Strafverfolgungsbehörden und auch der bisherigen Ermittlungen der österreichischen Kriminalpolizei“ [Kursivsetzung durch Redaktion]. Die Ermittlungen der österreichischen Kriminalpolizei legen aber zu keinem Zeitpunkt auch nur den Verdacht einer Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation nahe. Im selben Rechtshilfeersuchen findet jedoch jene oben erwähnte Zusammenführung von „TKP/K“ und „TIKKO“ seitens der Oberstaatsanwaltschaft statt; sie legt damit die Verbindung von Max Zirngast mit einer Guerillaarmee zwecks revolutionärem Umsturz nahe. Die Oberstaatsanwaltschaft Graz geriert sich also im ganzen Ermittlungsverfahren sultanischer als der Sultan selbst. Und ganz zum Schluss des Rechtshilfeersuchens der Krönungsakt: „Die Staatsanwaltschaft Graz benützt diesen Anlass zur Versicherung ihrer vorzüglichen Hochachtung“ – die politische Willkürjustiz der Türkei dankt! Es ist klar: Zur rascheren Enthaftung und zum Freispruch von Max Zirngast wird dieses willfährige Verhalten gegenüber den türkischen Behörden nicht beigetragen haben.

Erst im Schreiben zur Verfahrenseinstellung vom 29. Oktober 2019 – also mehr als einen Monat nach dem rechtskräftigen Freispruch von Max Zirngast in der Türkei – wird die Oberstaatsanwaltschaft Graz festhalten, dass der in der Türkei zuständige Staatsanwalt keinen Beweis für die Existenz der (eigentlich) zur Frage stehenden „TKP/K“ erbringen konnte. Die Oberstaatsanwaltschaft Graz benötigt also fast ein Jahr, um das Ermittlungsverfahren gegen Max Zirngast wegen fehlender Beweise fallen zu lassen, obwohl von Anfang an noch nicht einmal ein Indiz (!) für die Existenz der „TKP/K“, für ihre Verbindung zur „TKP/ML“ oder gar für Max Zirngasts Mitgliedschaft in einer der genannten Organisationen vorlag. Und obwohl die österreichische Botschaft in Ankara selber schon in ihrem Bericht zur Prozessbeobachtung des ersten Gerichtstermins von Max Zirngast und seinen Mitangeklagten vom 11. April 2019 zur „TKP/K“ festhält, dass „deren tatsächliches Bestehen nicht nachgewiesen ist“. Auch dieser Bericht ist in die Ermittlungsakten mit aufgenommen worden; eine Unkenntnis dessen seitens der Staatsanwaltschaft Graz ist unmöglich.

Beunruhigende Fragen

Am 26. Dezember 2018, direkt nach seiner Enthaftung, überreicht Max Zirngast dem österreichischen Konsulat in Ankara die gegen ihn vorliegende Anklageschrift. Allerspätestens aus dieser wird glasklar ersichtlich, wie abstrus und willkürlich das Verfahren gegen Max Zirngast ist. Warum findet sich die Anklageschrift nicht wieder in den österreichischen Ermittlungsakten? Warum wurden die Grazer Oberstaatsanwaltschaft und das österreichische Justizministerium nicht über diese Anklageschrift informiert, so dass sie sich noch zwei weitere Male nach Veröffentlichung der Anklageschrift mit Bitte um Informationen an die türkischen Behörden wandten? Warum eröffneten die österreichischen Behörden überhaupt das Verfahren und schmetterten es nicht einfach nieder wegen Mangels an Beweisen, ja gar Indizien? Und warum wurden weder Max Zirngast, noch sein Anwalt, noch seine Familie über dieses Verfahren informiert, bis es eingestellt wurde?

An der gesamten Geschichte sind nicht allein die Staatsanwaltschaft Graz und das BVT beteiligt: Im Schriftverkehr sind an unterschiedlichen Stellen auch das Justizministerium, die österreichische Botschaft in Ankara und das Außenministerium involviert. Auch die Staatsanwaltschaft Wien ist informiert. Sie tauchen alle in den Ermittlungsakten auf. Warum protestiert keine der involvierten Behörden gegen dieses absurde Vorgehen oder informiert zumindest Max Zirngast darüber, damit er sein Recht auf Verteidigung in Anspruch nehmen kann? Das ist ein handfester Skandal: Obwohl keine Indizien für einen Straftatbestand vorliegen und obwohl die ganze Welt aufgrund zahlloser gutdokumentierter Vorkommnisse weiß, dass die Justiz in der Türkei in politischen Angelegenheiten durchgehend als verlängerter Arm der Regierung funktioniert, wird ein Ermittlungsverfahren wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ gegen Max Zirngast auch in Österreich eröffnet. In der Öffentlichkeit wird währenddessen allerdings gute Miene zum bösen Spiel gemacht: „Wir arbeiten hier, was wir können“, lässt die ehemalige Außenministerin Karina Kneissl am 12. Dezember 2018 zum Fall Max Zirngast verlauten: „Ich weiß nicht, was es bringen soll, wenn man das Außenministerium attackiert.“

Es stellen sich sehr viele sehr beunruhigende Fragen im Anschluss an diesen handfesten Skandal, deren Klärung noch aussteht: Wie sehr war die ehemalige Außenministerin Karin Kneissl informiert über diese Vorgänge? Hatte das Ermittlungsverfahren negative Auswirkungen auf das Engagement der österreichischen Bundesregierung für Max Zirngast? Warum spekuliert das BVT fahrlässig und ohne irgendwelche Indizien über vermeintliche „Terrororganisationen“ und ihre Verbindungen und macht so ein Verfahren gegen einen unschuldigen Menschen überhaupt erst möglich? Wie sehr und warum sind österreichische Behörden dazu bereit, rechtsstaatliche Minimalstandards fallen zu lassen? Wie sehr lassen sie sich zu willfährigen Gehilfen einer offensichtlichen Willkürjustiz in der Türkei machen? Laufen etwa auch gegen die in der Türkei juristisch verfolgte Mülkiye Laçin und andere „Terrorverfahren“ in Österreich? Und können Journalist*innen, Akademiker*innen, Oppositionelle aus der Türkei in Zukunft darauf vertrauen, dass sie in Österreich in Sicherheit sind vor der türkischen Willkürjustiz – oder nicht?

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